Der 28. Februar 2022 markiert eine Zäsur für die Schweiz: In präzedenzloser Weise übernahm die Schweiz von der EU erlassene Sanktionen. Für die Schweizer Behörden aber insbesondere auch für die Schweizer Wirtschaftsteilnehmer begann eine äusserst hektische Zeit. Nun ist die Zeit gekommen, einen Schritt zurückzugehen und eine Standortbestimmung vorzunehmen. Wie ist die Schweizer Sanktionspolitik unter dem Gesichtspunkt der rechtsstaatlichen Grundsätze zu beurteilen? Welche Problemfelder bestehen und wie können diese adressiert werden?
Die russische Invasion der Ukraine 2022 hat in der Schweiz zu grundlegenden Diskussionen rund um das Schweizer Verständnis von Neutralität geführt. Direkt zeigt sich die Problematik in der Diskussion um Lieferungen von Kriegsmaterial und entsprechende Re-Export Verbote der Schweiz (Art. 18 Kriegsmaterialgesetz [KMG]), aber vor allem auch mit der Übernahme der EU-Sanktionen durch die Schweiz. Während die Neutralität ein für die Schweizer Wirtschaft und Aussenpolitik äusserst zentrales Element ist, welches heute möglicherweise auch neu verhandelt und definiert werden muss, stellen sich bei Sanktionen aber unabhängig davon sehr wesentliche und grundsätzliche Fragen, deren politische und juristische Diskussion bislang nur in Ansätzen stattgefunden hat.
Sanktionen müssen rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen, insbesondere müssen sie geeignet sein, das von ihnen verfolgte Ziel zu erreichen (Grundsatz der Verhältnismässigkeit) und für alle Wirtschaftsbeteiligten klare rechtliche Rahmenbedingungen definieren. Dies dürfte unbestritten sein. Die derzeitige Sanktionspolitik der Schweiz hält diese Voraussetzungen aber nur bedingt ein. Der Grund: Die teilweise blinde Übernahme der EU-Sanktionen durch die Schweiz. Darauf wird im vorliegenden Beitrag eingegangen und es wird aufgezeigt, dass sich die daraus resultierenden, juristisch nicht vertretbaren Ergebnisse durch eine selbständige und aktive Sanktionspolitik der Schweiz vermeiden lassen.
Die Bundesverfassung bestimmt in aller Deutlichkeit, dass die Grundlage jedes staatlichen Handelns das Recht ist (Art. 5 Abs. 1 BV) und dieses staatliche Handeln verhältnismässig sein muss (Art. 5 Abs. 2 BV). Diese Grundvoraussetzungen werden im englischsprachigen Raum oft mit der «Rule of Law» zusammengefasst. Einschränkungen in die Grundrechte dürfen nicht leichthin vorgenommen werden, sondern bedürfen – wie gesagt – einer gesetzlichen Grundlage und sie müssen im öffentlichen Interesse sowie verhältnismässig sein (Art. 36 BV).
Gerade der Verhältnismässigkeit wurde im Kontext der Übernahme von EU-Sanktionen aber nur unzureichend Beachtung geschenkt. Das gilt sowohl in Bezug auf die finanziellen Sanktionen (d.h. Sanktionen, die gegen bestimmte Personen/Entitäten gerichtet sind) als auch die sektoralen Sanktionen (d.h. Sanktionen, welche vereinfacht gesagt den Austausch von bestimmten Gütern oder Dienstleistungen unterbinden).
Finanziellen Sanktionen liegen grundsätzlich folgende Überlegungen zugrunde: Je näher eine sanktionierte Person dem Machtzentrum des Staates zugeordnet werden kann, welcher Völkerrechtsverletzungen begeht, desto eher dürfte eine Sanktionierung dieser Person geeignet und erforderlich sein, um gegen Völkerrechtsverletzungen dieses Staates wirksam vorgehen zu können.
Damit der für den Erlass von Sanktionsverordnungen zuständige Bundesrat überhaupt eine effektive Verhältnismässigkeitsbeurteilung vornehmen kann, muss er über die entsprechenden Informationen verfügen. In der EU werden die Sanktionslisten von der EU-Kommission ausgearbeitet. Diese scheint sich soweit ersichtlich unter anderem auf die Arbeitspapiere der Stanford University International Working Group on Russian Sanctions (The International Working Group on Russian Sanctions | FSI) sowie auf Geheimdienstinformationen zu stützen. Die Listenentwürfe und Verordnungsentwürfe werden den EU-Mitgliedstaaten zur Vernehmlassung übergeben und die bereinigten Listen und Verordnungstexte werden schliesslich dem EU-Parlament und Rat der Europäischen Union vorgelegt. Die Schweiz ist als Nicht-EU-Mitglied in diesem Prozess nicht involviert und erhält nach Kenntnis der Autorenschaft auch keine Einsicht in die entsprechenden Grundlagendokumente und Akten. Die in den Sanktionslisten aufgeführten Begründungen sind also für die Schweiz als souveräner Staat nur sehr schwer überprüfbar. Wie der Bundesrat vor diesem Hintergrund eine Verhältnismässigkeitsbeurteilung in Bezug auf die Listung einzelner Personen vornehmen kann, ist somit mehr als fraglich. Die Sanktionspolitik der Schweiz scheint in diesem Punkt auf eine blinde Übernahme der Sanktionslisten der EU hinauszulaufen. Mit der Vorstellung der Schweiz als souveränen Staat, der die Beachtung der Verhältnismässigkeit hochhält, ist dieses Vorgehen nur bedingt zu vereinbaren.
Teilweise fragliche Auswirkungen der blinden Übernahme der EU-Sanktionen durch die Schweiz zeigen sich auch bei den sektoralen Sanktionen. Diesbezüglich muss man realistischerweise davon ausgehen, dass die EU gestützt auf ihre eigene Interessenlage in Bezug auf den EU-Binnenmarkt sektorale Verbote ausspricht. Sie entscheidet selbständig, welchen Hebel sie aktuell zum Beispiel gegenüber Russland einsetzt und in welchen sektoralen Bereichen sie aus Eigeninteressen Zurückhaltung übt (z.B. Öl, Gas). Die Interessenlage der Schweiz stimmt jedoch mit derjenigen der EU nicht bzw. nicht immer überein. Das zeigt sich bspw. bei bestimmten globalen Handelsverboten.
Das Verbot, gewisse Produkte mit russischer Herkunft in die EU bzw. die Schweiz zu importieren ist eine wirkungsvolle sanktionsrechtliche Massnahme. Der Schweizer bzw. der EU-Markt wird für diese Rohstoffe geschlossen, was je nach Rohstoff für Russland problematisch sein kann, da sich Russland auf andere Märkte beschränken oder diese aufbauen muss. Um die Wirkung solcher Massnahmen zu verstärken, wäre es natürlich wünschenswert, dass möglichst viele Staaten entsprechende Massnahmen ergreifen würden. Die EU-Sanktionen enthalten darüber hinaus jedoch auch globale Handelsverbote. Diese hat die Schweiz ebenfalls (blind) übernommen. Im globalen Rohstoffhandel spielen Unternehmen mit Sitz in der EU eine eher marginale Rolle. Solche Verbote haben damit kaum Auswirkungen auf Unternehmen mit Sitz in der EU. Grundsätzlich anders ist die Ausgangslage in der Schweiz. Die Schweiz gehört im Rohstoffhandel zu den weltweit führenden Ländern. Die Bedeutung der Schweizer Rohstoffbranche für die Schweizer Volkswirtschaft ist ungebrochen gross. In der Schweiz sind gegen 950 Unternehmen mit mehr als 10’000 Mitarbeitenden direkt oder indirekt in der Rohstoffbranche tätig (Rohstoffhandel). Die Schweizer Volkswirtschaft ist von globalen Handelsverboten folglich erheblich betroffen. Auf den ersten Blick könnte natürlich argumentiert werden, dass die Schweiz mit den globalen Handelsverboten einen zusätzlichen und wirkungsvollen Hebel im Kampf gegen die von Russland begangenen Völkerrechtsverletzungen hat und diesen richtigerweise auch einzusetzen hat. Dass Sanktionen dabei auch teilweise unerwünschte wirtschaftliche Auswirkungen auf die Schweiz selbst haben, liegt im Wesen von (sektoralen) Sanktionen. Diese unerwünschten wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Schweiz sind denn auch als verhältnismässig zu betrachten, soweit sie für die Erreichung des Sanktionszieles (wirtschaftliche Sanktionierung und Schwächung von Russland) geeignet sind. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass dies bei globalen Handelsverboten nicht der Fall ist. Ein russischer Verkäufer wird für seine Rohstoffe einen Käufer ausserhalb der EU oder der Schweiz finden – in Zukunft einfach ohne einen Schweizer Händler/Distributor dazwischengeschaltet zu haben. Darüber hinaus entscheiden sich die global agierenden hochmobilen Händler, ihren Sitz in Staaten zu verlegen, welche keine Sanktionen gegen Russland erlassen haben und grundsätzlich über wenig bis gar keine Regulierung verfügen. Russland erleidet hierdurch somit keinen oder nur geringfügigen Schaden. Ganz anders die Schweiz: Arbeitsplätze und Steuereinnahmen gehen verloren und auch die geopolitische Wirtschaft ist betroffen, da Händler sich darauf konzentrieren werden, ihre Tätigkeiten in möglichst unregulierte Jurisdiktionen zu verlegen und sich mittel- und langfristig damit auch dem Druck einer sinnvollen Regulierung entziehen. Politisch kann man diese Umstände selbstverständlich anders beurteilen. Juristisch gesehen ist aus Sicht der Autorenschaft die blinde Übernahme von EU-Sanktionen mit einigen Fragezeichen zu versehen, was die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit anbelangt. Hier könnte eine aktive und selbständige Sanktionspolitik der Schweiz Abhilfe schaffen.
Mangels klarer Formulierung in der Schweizer Ukraine-Verordnung bleibt regelmässig unklar, wie bestimmte Begriffe oder Konzepte zu verstehen sind (gemäss herkömmlichem Schweizer Recht, eigenständig gemäss der Sanktionsverordnung oder gemäss ausländischem Sanktionsrecht). Hinzu kommt die rege Kadenz von Änderungen an der Schweizer Ukraine-Verordnung. Es ist naturgemäss eine Herausforderung, die teilweise sofort in Kraft gesetzten Bestimmungen sogleich einzuhalten, ohne deren genaue Tragweite zu kennen bzw. erfassen zu können.
Aus diesen Umständen resultiert eine Rechtsunsicherheit, die dazu führt, dass sich Rechtsteilnehmer «übervorsichtig» verhalten, d.h. Verträge nicht erfüllen, Vertragsbeziehungen beenden oder Vermögenswerte blockiert halten, ohne dass es dafür eine rechtliche Grundlage oder Notwendigkeit gäbe. Man spricht von «Overcompliance».
Diese Rechtsunsicherheit kann vom Verordnungsgeber mitunter gar gewollt sein, denn die Übervorsicht bzw. «Overcompliance» bei den Rechtsteilnehmern ermöglicht es, mit den Sanktionsmassnahmen, zumindest in einer ersten Phase, eine grösstmögliche Wirkung zu erzielen. Selbstverständlich könnte diskutiert werden, ob eine solche «bewusste Unklarheit» der Bestimmungen, nicht bereits ein Verstoss gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip darstellt.
Auch wenn das Verständnis von Begriffen und Konzepten in der Folge vom SECO als für die Durchsetzung der Sanktionen zuständige Behörde präzisiert wird, so ist diese Praxis mindestens teilweise nicht öffentlich. Das SECO hat nur relativ wenige Richtlinien in Form von FAQ’s sowie dem konsolidierten Dokument «Auslegungshilfe für Sanktionsmassnahmen» publiziert. Dies im Unterschied zur EU. Obwohl die Durchsetzung der Sanktionen in der EU den Vertragsstaaten obliegt, hat die EU Kommission umfassende FAQ’s publiziert, welche den Vertragsstaaten als «Auslegungshilfe» dienen.
Rechtsunsicherheit kombiniert mit Overcompliance haben unmittelbare und nicht zu unterschätzende Konsequenzen auf den Geschäftsalltag. Manche Unternehmen verfolgen gegenüber ihren im Kontext der russischen Invasion in die Ukraine nun als «unliebsam» empfundenen Geschäftspartner teilweise die Strategie, sich durch eine abenteuerliche Argumentation von ihren vertraglichen Pflichten zu entsagen bzw. deren Erfüllung im Zweifelsfall einstweilen auszusetzen. Recht häufig bleibt diesen Geschäftspartnern nichts anderes übrig, als die entsprechende Argumentation via Anfrage bei den Behörden, insbesondere beim SECO widerlegen zu lassen. Da das SECO zufolge der präzedenzlosen Übernahme von Sanktionen zu wenig Ressourcen hat, dauert die Beantwortung solcher Anfragen länger. Die Konsequenzen sind teils drastisch, weil beispielsweise die Versicherungsdeckung wegfällt oder Mitarbeiter ihre Gehälter nicht mehr erhalten.
Gerade beaufsichtige Finanzinstitute verhalten sich häufig «overcompliant» und entscheiden sich bei geringsten Verbindungen zu Russland – ohne dass eine Sanktionsmassnahme konkret greifen würde – für die Annahme, dass eine Sanktion greift oder greifen könnte. Durch diese aus der Rechtsunsicherheit folgende Übervorsicht der Rechtsteilnehmer werden Grundrechte von natürlichen oder juristischen Person ohne rechtliche Grundlage beschränkt. Die Auswirkungen einer solchen Beschränkung der Grundrechte ist weder vorhersehbar noch steuerbar. Im Rahmen der Overcompliance ist die Auswirkung derselben nicht durch den Sanktionszweck gedeckt und führt auch nicht zu einer von den Sanktionen angestrebten Wirkung im Ziel. Von Overcompliance betroffene natürliche und juristische Personen erleiden jedoch einen Schaden, welcher nicht leicht wieder gutzumachen ist. Overcompliance erfüllt die Voraussetzungen an eine rechtmässige Beschränkung der Grundrechte nicht und kann vom Gesetz- und Verordnungsgeber nicht gewollt sein.
Selbstverständlich liegt es im Ermessen der Rechtsteilnehmer und nicht des Staates, wie sich ein Rechtsteilnehmer verhalten will. Mit dem Aufstellen von klaren Regeln und der Publikation der aktuellen Anwendungspraxis hat es der Staat jedoch in der Hand, die Rechtsunsicherheit zu verringern bzw. zu beseitigen und so die Auswüchse der Overcompliance zum Schaden der Schweizer Wirtschaft einzudämmen.
Sanktionen können ein geeignetes und sinnvolles Mittel zur Sanktionierung von Völkerrechtsverletzungen darstellen. Der Zweck heiligt jedoch nicht die Mittel. Es ist von der Schweiz zu erwarten, dass sie die rechtsstaatlichen Grundsätze auch in Anbetracht politischen Drucks hochhält. Dazu gehört insbesondere die Einhaltung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes, wenn Grundrechte beschränkt werden. Um dies zu erreichen, muss die Schweiz:
Die Schweiz muss ihrer sich selbst auferlegten Verantwortung und Aufgabe, als souveräner Staat sich für Rechtsstaatlichkeit einzusetzen, aktiv nachkommen. Es darf nicht sein, dass die Schweiz beim Versuch, die Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen anderer Staaten zu sanktionieren, den eigenen Grundsätzen (insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit) zu wenig Beachtung schenkt. Schon gar nicht, wenn es sich dabei nicht um einen aktiven, wohlüberlegten Entscheid der Schweiz handelt, sondern um eine blinde und ungeprüfte Übernahme von ausländischen Sanktionen. Das Mittel der Wahl hierzu ist eine selbständige und aktive Sanktionspolitik.
Erste Ansätze eines Wechsels in der Herangehensweise sind erfreulicherweise bereits erkennbar: So baut das SECO kontinuierlich Kapazitäten und Know-How auf. Auch hat der Bundesrat entschieden, Art. 8a Verordnung (EU) 833/2014 gemäss dem 14. Sanktionspaket der EU nicht zu implementieren. Dieser hätte die Schweiz angehalten, die Einhaltung der Schweizer Sanktionen durch Tochtergesellschaften im Ausland sicherzustellen (s. hierzu unseren ausführlichen Beitrag: Keine extraterritoriale Ausweitung der Schweizer Sanktionen). Wünschenswert für die Zukunft wäre, dass die Politik sich der oberwähnten Problematik vermehrt bewusst wird und den Schritt zu einer selbständigen und aktiven Sanktionspolitik unterstützt.